Wenn aus Kindern Pfleger werden
Mama füttern, Medikamente für Papa richten, Oma auf Toilette helfen – für fast eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland gehört die Pflege eines Angehörigen zum Alltag. Damit sie unter der Last nicht zusammenbrechen, bräuchten sie dringend Hilfe – doch die gibt es kaum.
TEXT: THERESA HORBACH
ILLUSTRATIONEN: ESTHER CZAYA
Als Julika Stich zur pflegenden Angehörigen wurde, war sie gerade sieben. Fünf Jahre zuvor war bei ihrer Mutter Multiple Sklerose festgestellt worden. „Erst habe ich ihr von einem in den anderen Rollstuhl geholfen. Da musste ich gucken, dass sie nicht runterfällt. Die Intimpflege und das Windeln, das habe ich dann mit zehn gemacht“, sagt die heute 37-Jährige. 17 Jahre lang pflegte Julika ihre Mutter und übernahm Aufgaben, die selbst viele Erwachsene überfordern. „Manchmal habe ich mich so gefühlt, als wäre meine Mutter das Kind“, erinnert sie sich.
Wie Julika kümmern sich in Deutschland 479.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren um einen pflegebedürftigen Angehörigen. Das ergab die KiFam-Studie (kurz für „Krankheit in Familien“), die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums von 2015 bis 2018 durchgeführt wurde. Die meisten Betroffenen pflegen einen Elternteil, andere die Großeltern oder Geschwister: Sie helfen beim Treppensteigen, beim An- und Ausziehen, richten Medikamente oder reichen das Essen an. Ein Viertel der jungen Pflegenden hilft bei der Körperpflege, jeder neunte wechselt wie Julika Windeln oder leert den Urinbeutel aus.

„Die Kinder füllen die Lücken da, wo sie sich auftun“, erklärt Sabine Metzing von der Universität Witten/Herdecke, die die KiFam-Studie leitete. Das kann auch bedeuten, vor der Schule den Bruder in den Kindergarten zu bringen, den Eltern Mut zu machen oder in Rufbereitschaft zu sein, falls ein Notfall eintritt. Mehr als 80 Prozent der Betroffenen übernehmen zusätzlich zur Pflege Tätigkeiten im Haushalt – oft ohne Unterstützung eines Erwachsenen. Meist fängt es mit kleinen Aufgaben an, die die Kinder wie selbstverständlich übernehmen. Im Verlauf der Krankheit wird die Verantwortung größer und größer. „Viele merken gar nicht, wie viel sie über die Jahre auf sich geladen haben“, sagt Sabine Metzing. Selbst wenn die Familien Anspruch auf Hilfe hätten, bleiben viele aus Scham oder Angst vorm Jugendamt im Verborgenen.
Die große Verantwortung hat früher oder später Auswirkungen auf die Jugendlichen. „Ich bin früh sehr ernst geworden“, erinnert sich Saskia B., heute 34, die mit 17 Jahren anfing, ihre linksseitig gelähmte Mutter zu pflegen. Zusätzlich schmiss Saskia den ganzen Haushalt, bereitete sich aufs Abi vor und ging arbeiten, weil das Geld knapp war. Irgendwann brach sie in der Schule zusammen. Erst in dieser Zeit habe sie gemerkt, dass sie Hilfe brauche, meint Saskia. Sie sei damals oft wütend gewesen, nicht zuletzt auf ihre Mutter. Diese fasste irgendwann den Entschluss, in eine andere Wohnung zu ziehen, um wieder selbstständiger zu werden. „Das war ziemlich schlimm für mich“, erinnert sich Saskia. „Es war, als würde ein Kind ausziehen.“

Auch an Julika ging die Pflege nicht spurlos vorüber: Mit 17 Jahren kam sie zum ersten Mal wegen einer Depression in eine Klinik – die ständige Sorge um die Mutter hatte sie krank gemacht. Noch dazu musste sie sich Vorwürfe von dem Pflegedienst anhören, der ihre Mutter betreute. „Die soll sich mal nicht so anstellen“, hielten sie ihr vor. Als besonders schwierig erinnert sie zudem das Windelnwechseln: „Es ist ja die eigene Mutter, aber bei solchen Tätigkeiten kam schon der Ekel. Obwohl ich das natürlich nicht wollte.“
Sowohl Sabine Metzing als auch Hanneli Döhner, Vorsitzende des Hamburger Vereins „Allianz für pflegende
Angehörige“, sehen die Grenze des Zumutbaren bei der Intimpflege. „Das möchte und sollte kein Kind übernehmen“, findet Hanneli Döhner, die bei der Allianz auch die Arbeitsgruppe „Junge Menschen mit Pflegeverantwortung“ leitet. „Es ist nicht per se schlecht, wenn Kinder sich um Angehörige kümmern“, ergänzt sie.
Sabine Metzing stimmt zu: Wenn die Kinder sich nicht übernehmen würden, könnten sie sogar an ihrer Verantwortung wachsen – indem sie einen starken emotionalen Zusammenhalt in der Familie erfahren und früh selbstständig werden zum Beispiel.
Ganz gut klappt das bereits in Großbritannien, weltweites Vorbild im Umgang mit pflegenden Kindern und Jugendlichen. Dort haben die Young Carers, wie die jungen Pflegenden international heißen, einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass die Kommunen ihren Hilfebedarf bewerten: Bleibt ihnen genug Zeit für sich, leiden Gesundheit oder Schule, welche Hilfe brauchen sie? Zusätzlich bekommen sie einen speziellen Ausweis, sodass Ärzte und Pflegedienste Bescheid wissen. Und Hilfsorganisationen wie die Children’s Society organisieren regelmäßig Festivals für die Jugendlichen. Dort können sie sich mit Gleichaltrigen in ähnlichen Situationen austauschen und einfach mal abschalten.

Julika hätten früher schon Kleinigkeiten geholfen. Ihr Rat an Menschen, die in ihrem Umfeld Kinder und Jugendliche mit Pflegeverantwortung beobachten: Zuhören, die Situation annehmen, statt sie herunterzuspielen, die Familie zum Abendessen einladen oder mit dem Kind ins Schwimmbad gehen.
Saskia hätte sich mehr Unterstützung von der Schule gewünscht. Nach ihrem Zusammenbruch schaltete der Direktor zwar die Behörde ein, die eine psychologische Beratung für Saskia organisierte. Doch er habe sich nie wieder nach ihr erkundigt, erzählt sie. „Ich finde, die Schule hat versagt.“
Um ihre Geschichte aufzuarbeiten und anderen Betroffenen zu helfen, gründete Julika 2016 die Initiative „Young helping hands“, englisch für „junge Hände, die helfen“. Julika verstand sich erst lange nach dem Tod ihrer Mutter als ehemalige junge Pflegende. Damals suchte sie „Kinder, die ihre Eltern pflegen“ im Internet und stieß auf die Young Carers in Großbritannien. „Das war ein Befreiungsschlag.“
Viel mehr Öffentlichkeitsarbeit und flächendeckende Hilfsangebote fordert sie, ebenso wie Sabine Metzing und Hanneli Döhner, und schrieb daher mit ihrer Initiative einen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). In der Antwort verwies das Gesundheitsministerium unter anderem auf Schulungskurse für pflegende Angehörige. „Da musste ich ganz tief durchatmen“, sagt Julika. Es gehe ja nicht darum, die Kinder noch mehr in die Pflege einzubinden.
Auch Saskia engagiert sich bei „Young helping hands“ – neben der Pflege ihrer Mutter, die mittlerweile in Schwerin lebt. Alle paar Wochen pendelt Saskia dorthin, anfangs aus Köln, wo sie nach dem Studium hingezogen war. „Ich hatte aber permanent ein schlechtes Gewissen“, berichtet sie und so kam sie wieder zurück nach Hamburg, näher zur Mutter. Wie sehr die Verantwortung, die sie als Jugendliche trug, sie noch heute beeinflusst, zeigt sich in Saskias eigener Familienplanung. Ob sie je Kinder will? Saskia ist unsicher: „Es fühlt sich so an, als hätte ich schon eins großgezogen.“•
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Wenig Hilfe für junge Pflegende in Hamburg
Persönliche Beratung für junge Pflegende bieten deutschlandweit nur das Berliner Projekt „Echt unersetzlich“ und der Kinderschutzbund Segeberg, der zwei Gruppen für pflegende Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren unterhält. Zudem gibt es einige Internetseiten mit Tipps und Beratung per Mail oder Telefon.
In Hamburg versichert die Gesundheitsbehörde auf Anfrage von Hinz&Kunzt, dass alle Pflegestützpunkte für die Situation pflegender Kinder und Jugendlicher sensibilisiert seien und auch die Schulbehörde das Thema im Blick habe. Dies reiche grundsätzlich aus. Hanneli Döhners Erfahrungen zeigen etwas anderes: Sie versuchte, an einer Hamburger Schule ein Modellprojekt zu starten, um Betroffene in der Schule besser zu identifizieren. „Wir sehen diese Kinder“, hätten die Pädagogen ihr gesagt. Doch solange es keine Beratungsangebote gebe, wolle man das Thema lieber ruhen lassen.
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Erschienen im Juli 2019 im Hamburger Stadtmagazin HINZ&KUNZT N°317/JULI 2019 in der Rubrik »Stadtgespräch«
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